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¡Comienzo emocionante!

Nun bin ich schon mehr als einen Monat in Argentinien. Ich bin froh, dass ich mir mit diesem Artikel ein bisschen mehr Zeit genommen habe. Wenn ich nach der ersten Woche in Córdoba geschrieben hätte, würde ich das jetzt umso mehr bereut, aber dazu später mehr.
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Datum:
11. Sep. 2018
Von:
Benedikt Groß

Die letzten Wochen waren so ereignisreich, so dass dieser Artikel recht lang ist. Wenn du grade nicht die Zeit hast, alles zu lesen, aber gerne wissen möchtest, wie es mir geht:

Aktuell geht es mir sehr gut. Ich habe in den letzten Wochen verstanden, dass dieses Jahr für mich real ist. Das hat am Anfang ein wenig zu Heimweh und gemischten Gefühlen geführt, aber dank der guten Integration meines Gastvaters, meiner Mitbewohner und den Leuten in der Fundation habe ich schnell Anschluss gefunden und bin nicht einsam. Ich habe viel Spaß im Projekt und baue Instrumente aus recycelten Produkten.

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Nach unserer letzten Spanischsprachkursstunde warteten wir auf unsere Gastfamilien, die uns im Haus der Partnerorganisation abholen sollten. Ich war aufgeregter als vor jeder Prüfung, die ich bis jetzt hatte. Schließlich sollte ich an diesem Abend den Mann kennenlernen, bei dem ich ein Jahr lang leben werde und von dem ich bisher nur den Namen wusste. Als Gabriel ankam, war ich erleichtert. Er wirkte sehr herzlich, lustig und offen. Mit seinem Auto fuhren wir dann in Richtung meines neuen Zuhauses. Meine ersten Konversationen auf Spanisch, ohne sich Hilfe von den anderen Freiwilligen holen zu können, verliefen so „más o menos“. Gabriel kann auch Englisch sprechen und so sind wir dann doch das ein oder andere Mal ins Englische ausgewichen.

Zuhause angekommen kam dann eine kleine Überraschung. Die Einzimmerwohnung wird mit drei weiteren Personen geteilt, sodass kaum Platz vorhanden ist und die Matratzen nebeneinander auf dem Boden liegen. Ich hatte in dem Moment aber gar keine Zeit, mir darüber Gedanken zu machen, was ich davon halten sollte, da es unmittelbar nach der Ankunft weiter ging. Wir liefen zu der Räumlichkeit der Fundation, die nur zwei Straßenecken entfernt ist.

Gabriel hat die Fundation „Juvips“, in der ich als Freiwilliger arbeiten soll, vor einigen Jahren gegründet. Wenn ich das Leitmotto der Organisation übersetze, zeichnet sich die Fundation durch „Jugendliche für Inklusion und soziale Partizipation aus“. Juvips bietet viele verschiedene Projekte und Aktivitäten an, wie z.B. Karate-, Fußball-, Boxtraining oder Tanzunterricht. Außerdem werden auch einige Umweltprojekte, wie das Recyceln von Produkten unterstützt. Bei meiner Ankunft war in der Fundation ein Karatekurs für Kinder und Gabriel stellte mich einigen jungen Frauen vor, die am Tisch saßen und Mate tranken. Ich hab mich so gut wie es ging mit ihnen unterhalten und sie haben mich netterweise immer wieder ins Gespräch eingebaut.

Nach einem Essen beim Peruaner hatte Gabriel noch eine tolle Überraschung und ging mit mir zum Stadion von Córdoba Athletico Belgrano, seinem Lieblingsverein. Es benötigte nur ein paar nette Worte mit dem Platzwart und wir durften ins Stadion auf das Spielfeld. Der Platzwart war sogar so nett, die Flutlichtanlage einzuschalten. Für mich als Fußballbegeisterter war das ein unbeschreiblich emotionales Erlebnis.

Da die beiden weiteren Mitbewohner über das Wochenende zu ihren Familien verreist waren, waren Gabriel und ich in der Wohnung vorerst zu zweit. Am nächsten Tag musste mein Gastvater in der Stadt arbeiten. Ich saß in der Fundation, um das Wlan zu nutzen, als ein 20-jähriger Mann vorbeikam. Kenyi, der Trainer einer Fußballmannschaft von Juvips, nahm mich den ganzen Tag auf seinem Mofa mit. Wir fuhren raus aus der Stadt und ich lernte die Umgebung kennen. Während ich einerseits viel Spaß hatte, auf dem Mofa mitfahren zu dürfen, fand ich auch einige Eindrücke sehr erschreckend. Vor allem wie Reich und Arm außerhalb des Zentrums, aufeinanderstoßen. Auf der einen Seite des Flusses große und schöne Häuser und auf der anderen teilweise nur Blechhütten.

Zuhause bei Kenyi lernte ich seine gastfreundliche Familie kennen und begleitete die Kinder mit zum Fußballtraining auf einen staubigen Platz mit Metallbegrenzungen als Tore. Das war schon ein Unterschied zu dem wie ich es gewohnt bin mit meinen Freunden auf hochwertigen Kunstrasenanlagen spielen zu. Aber die Kinder hatten Spaß und das war schön anzusehen. Der Witz an der ganzen Geschichte besteht darin, dass mich Kenyie am selben Abend noch einmal abholte, um mit seinen Freunden in seinem Alter auf einer hochwertigen Kunstrasenanlage Fußball spielen zu gehen, für die wir jedoch auch zahlen mussten. Anschließend brachte er mich noch zu einer traditionellen Feier in meinem Stadtviertel, das für seine Tradition in Córdoba und ganz Argentinien bekannt ist, denn von hier aus soll die Studentenrevolution Argentiniens losgegangen sein. Auf der traditionellen Feier traf ich Gabriel und die Frauen vom Vorabend und wir tranken Fernet und tanzten traditionelle Tänze wie Folklore und Cuartetto. Jedoch wurde mein Tanzstil solange korrigiert, bis ich meine Hüfte und meinen Körper so einsetzte, wie es die meisten anderen auch taten, ungewohnt, aber lustig.

Die ersten Tage waren so erlebnisreich und doch konnte ich meine Gefühlslage nicht gut einordnen. Die Gewissheit, dass ich nun wirklich für ein Jahr hier bin, traf mich doch härter als erwartet. Ich konnte mir zu diesem Zeitpunkt nicht vorstellen, wie es möglich sein wird, mir das Zimmer mit drei Personen teilen zu müssen. Ich bin eine Person, die täglich auch mal Rückzugsmöglichkeiten, Ruhe und Zeit für sich benötigt. Es war für mich unvorstellbar wie das nun möglich sein wird und so überkam mich ein starkes Heimweh nach meiner Familie, meiner Freundin, meinen Freunden und meinem Bett – und leider stärker als es mir lieb war.

Es ist aber auf keinen Fall so, als hätte ich mich nur schlecht gefühlt am Anfang. Es war einfach ein schwer einordbares Gefühlschaos. Alle in meinem Umfeld haben sich sehr um Aktivitäten mit mir bemüht, um mich bestmöglich schnell zu integrieren. Eigentlich hatte ich kaum Zeit für Heimweh, weil ich ständig unterwegs war. Aber in den kurzen Zeiträumen zwischen den Aktivitäten dafür umso mehr.

Am Samstag lernte ich dann auch Shuba, meinen Gastbruder, kennen, der seit drei Monaten bei Gabriel wohnt und in der Organisation arbeitet. Wir schauten uns das zweite Saisonspiel von Belgrano in einer Kneipe an und ich kapierte, dass ich auch hier wohl nicht Fan von einer Mannschaft werde, die ständig gewinnt. Aber das wäre ja auch zu langweilig. Gerade als Köln Fan fühle ich mich bei diesem Club, den Tradition, eine große Fanszene und schwer einschätzbare Spiele ausmachen, sehr wohl. So bin ich nun Besitzer einer Dauerkarte für das kommende Jahr und gucke mir zusammen mit Shuba und Gabriel die Heimspiele im Stadion an. Nur Axel, mein anderer Gastbruder, ist Fan vom Derbykonkurrenten. Aber in der Wohnung herrscht neben kleineren Provokationen Derbyfrieden.

Sonntags gibt es die Tradition, bei Gabriels Eltern lecker zu essen, Fußball zu gucken und unsere Wäsche zu waschen. Endlich, muss ich sagen, denn nach den ersten zwei Wochen wurde mein Klamottenvorrat sehr, sehr klein. Gabriels Familie ist herzlich und wirkt sehr interessiert an meinen Erzählungen. Auch wenn ich glaube, dass man meine Erzählungen maximal zur Hälfte verstehen konnte, aufgrund meiner Sprachbarriere.

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Nach dem Besuch fuhren wir zu Kenyis Familie, denn dieser hatte eine Friseurspendenaktion organisiert. Vor Ort hatte man die Möglichkeit, sich für 100 Pesos (ca. drei Euro) die Haare schneiden zulassen, und das Geld sollte in eine schöne Aktion für die Kinder der Fußballmannschaft investiert werden. Doch auch danach war der Tag nicht vorbei. Shuba, Gabriel und ich fuhren in die Stadt, um in den Geburtstag von Shuba reinzufeiern. Das hab ich zwar erst spät verstanden, aber zum Glück noch vor 0 Uhr. Zum Glück hatte ich die Gastgeschenke noch nicht übergeben, sodass ich das Kölsch und das zugehörige Glas sowohl als Gastgeschenk, als auch zum Geburtstag überreichen konnte.

Dann begann meine erste Arbeitswoche und ich war schon aufgeregt auf das Projekt, auch weil ich endlich auf einen Alltag wartete und hoffte, dass dieser meine Gefühlssituation verbessern würde. Vorerst soll ich Shuba in seinem Projekt helfen und ich muss sagen, dieses Projekt passt so unglaublich gut zu mir. Die Aufgabe besteht darin, aus Müll Instrumente zu recyceln und mit diesen ein klassisches Orchester zu gründen. Gabriel hat diese Idee schon länger und den Kontakt zu einem Orchester aus Paraguay hergestellt, die genau dieses Ziel erreicht haben. Ich war so positiv von dem Sound der Instrumente in dem Video überrascht und konnte kaum glauben, dass es möglich ist, aus Abfallprodukten Instrumente zu bauen.

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Dieses Orchester wird uns auch diesen Monat zum Frühlingsanfang besuchen und ein Konzert in dem Stadion von Belgrano geben. Ich freue mich schon sehr darauf und bin gespannt, was das Orchester zu unseren bisherigen Arbeitsschritten mit den Instrumenten zu sagen hat.

Shuba und ich arbeiten zusammen bei Marcelo, einem Argentinier, in seiner Werkstatt. Die Arbeit ist sehr praktisch mit vielen verschieden Arbeitsgeräten. Hier lerne ich viel Neues, da ich bis jetzt kaum mit Werkzeugen gearbeitet habe. Andererseits kann ich durch meine langen Erfahrungen, Cello zu spielen, durch einige neue Ideen, gut weiterhelfen. So suchen wir auf dem Müllplatz der Stadt Córdoba, auf dem alle fünf Minuten neue Müllwagen ankamen, um den Abfall abzuladen, nach geeigneten Konservendosen, die wir als Korpus für Geigen und Celli verwenden möchten. Ich versteh mich echt super mit Shuba und Marcelo.

Vor einigen Tagen haben wir mit der Fundation einen Kindertag „Dia del niño“ gefeiert und auf der Straße eine Hüpfburg aufgebaut, Kicker und viele andere Spiele mit den Kindern aus der umliegenden Umgebung gespielt.

Dadurch, dass Shuba und ich zusammen arbeiten und so viel Zeit miteinander verbringen, versteht er mittlerweile, was ich meine, wenn ich mich mit meinem geringen Sprachwortschatz probiere auszudrücken. Shuba spielt sozusagen meinen Übersetzer von unverständlichem Spanisch zu verständlichem Spanisch, wenn wir mit anderen Leuten unterwegs sind. Aber auch andersrum, wenn ich die anderen nicht verstehe, übersetzt mir Shuba die Sätze zu einfacheren und für mich verständlicheren. Aber das soll jetzt nicht so klingen, als könnte ich mich gar nicht ausdrücken! Meine Sprachfähigkeiten machen extrem schnelle Fortschritte, da ich tagtäglich mit Spanisch konfrontiert werde. Ich kann mich mittlerweile ohne große Probleme in Gespräche einbringen, mich ausdrücken und die anderen verstehen, solang die Wörter deutlich und nicht zu schnell ausgesprochen werden. „Sí“ oder „Como?“ sind aber weiterhin die beiden Wörter, die ich hier am häufigsten benutze.

Axel ist auch ein super netter Gastbruder und ich verbringe viel Zeit in meiner Freizeit mit den beiden. Sie integrieren mich stark. Wir kochen zusammen (das kann Shuba besonders gut, da er vier Monate als Koch gearbeitet hat), gehen zusammen feiern, erzählen uns Witze, die ich mittlerweile schon verstehen kann, diskutieren über Fußball, machen Sport und vieles mehr. Ich hab die beiden und meinen Gastvater echt gern. Mit meinem neuen Freundeskreis verbringen wir abends viel Zeit, sitzen in der Fundation und trinken Mate, gehen zusammen essen oder gehen Bowling, Playstation oder Billard spielen. Ich bin sehr dankbar dafür, dass ich hier so unglaublich toll integriert werde. Denn ich glaube, dass Einsamkeit in einem anderen Land, dessen Sprache ich noch nicht so gut beherrsche, viel schlimmer ist als zu wenige Rückzugsmöglichkeiten. Aber auch diese habe ich mittlerweile gefunden und so setze ich mir, wenn ich ein bisschen Ruhe brauche, meine Kopfhörer auf, höre Musik oder schaue mir eine deutschsprachige Serie an. Mein Gefühlschaos hat sich gelegt und ich fühle mich hier angekommen und bin darüber glücklich.

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Am Wochenende treffe ich mich oft mit den anderen deutschen Freiwilligen und wir unternehmen etwas zusammen und tauschen uns gegenseitig über unsere Erfahrungen aus. Letzte Woche habe ich eine Freundin in einem Ort, ca. eine Stunde von Córdoba entfernt, besucht und wir sind zu einem Stausee gewandert. Der Frühling kommt hier langsam und es ist schön mit anzusehen, wie die Bäume anfangen zu blühen und es warm wird. Es hat richtig gut getan, mal wieder Natur zu sehen, denn hier in Córdoba bin ich zwar super zentral an alles angebunden und kann viel erleben, aber der Müll in den Straßen, der starke Verkehr und die vielen Menschen sind Dinge, über die ich mich nicht wirklich erfreuen kann. Dafür aber umso mehr über die vielen Möglichkeiten mit meiner neuen Clique etwas zu unternehmen. Der Zeitrhythmus ist zwar ein ganz anderer, als ich gewohnt bin, aber das ist alles eine Frage der Gewöhnung. So gehen wir z.B. nachts um zwei Uhr erst in der Stadt feiern oder essen erst gegen 12 bis 1 Uhr zu Abend.

Insgesamt fühle ich mich also, nach einer einwöchigen Eingewöhnungsphase mit Heimweh, mittlerweile sehr wohl und bin glücklich, diese Erfahrung machen zu können. Mein Spanisch entwickelt sich, aber es ist auch immer wieder aufs Neue anstrengend und mir wurde hier erst so richtig klar, wie wichtig Sprache ist, um sich zurechtzufinden und sich zu integrieren.

So, das soll erst einmal genug sein. Bis zum nächsten Blogeintrag.

Euer Jonas