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Einswerden mit Gott setzt unsere Energien frei für die Nächstenliebe (6. Sonntag der Osterzeit 2003)

Datum:
25. Mai 2003
Von:
Heinz Büsching

Was tun wir alles aus Angst, nicht mithalten zu können. Aus Angst, vor den andern dumm dazustehen. Aus Angst, uns zu blamieren. Wir sichern uns ab. Niemand soll uns einen Vorwurf machen können. Wir wollen keinen schwachen Punkt bieten. Keiner soll uns etwas nachsagen können. Wie viel Wachsamkeit wird aufgeboten und wie viel Anstrengung, dass wir nicht Gesichter sehen müssen, die von uns enttäuscht sind. Und was tun wir alles für ein bisschen Anerkennung, für ein bisschen Lob. Was tun wir alles für ein bisschen guten Eindruck.

Nicht anerkannt werden, das Gefühl haben, abgelehnt zu sein, nicht dazuzugehören – das ist nicht nur schrecklich, es ist tödlich. Aber ständig spüren wir unser Ungenügen. Irgendwo lauert in uns die Angst zu versagen. Wir wollen es uns nicht gern eingestehen, und es ist auch schwer abzuschätzen, welche Rolle in unserm Leben die Bemühung spielt, immerfort sich und andern beweisen zu müssen, dass wir eine Existenzberechtigung haben, dass wir leben dürfen.

Solange der Tank voll ist und die Maschine einigermaßen gut läuft, lässt sich die Lebensangst einigermaßen überspielen. Aber alle Tanks werden irgendwann leer, und die Maschine kann schnell kaputtgehen...

Wenn jemand krank wird oder die Beschwerden des Alters ihn lahmlegen, dann heißt die gängige Redensart: ich bin nichts mehr wert. Wenn das wahr ist, dass jemand nur so lange etwas wert ist, wie er Existenzberechtigung produziert, dann ist unser Leben nicht nur anstrengend, sondern auch eine Wanderung über dem Abgrund. Immer weiß das Herz um die Brüchigkeit unseres Bodens und spürt die Angst, die daraus kommt. Aber das möchten wir am liebsten verstecken. Immer zeigen wir zunächst unsere Außenseite und möchten uns nach außen gut verkaufen. Aber wie sieht es in unserem Innern aus?

Ich zweifle nicht daran, dass wir vieles aus Lebensfreude tun, manches sogar aus Begeisterung, und dass es einfach schön ist, seine Talente zu entfalten. Aber ist das alles, was uns treibt und fleißig macht? Gelegentlich sollten wir unsere Aktivitäten selbstkritisch prüfen. Wie viel Energie geht auf die Selbstdarstellung und wie viel Kraft auf die Niederhaltung der Ängste.

Liebt einander, heißt es im Evangelium. Liebt einander, so wie ich euch geliebt habe. Seit Jesus den Gedanken der Nächstenliebe in die Welt gebracht hat, der Nächstenliebe, die grenzenlos ist, total, bis zur Lebenshingabe, seit Jesus den Gedanken der Nächstenliebe in die Welt gebracht hat, ist dieser Gedanke eingegangen in 100.000 Appelle. In Predigten, Sonntagsansprachen und flammende Aufrufe. Alle reden von Nächstenliebe.

Aber wo ist sie?

Warum tun sich die Allernächsten so viel Leid an? Warum ist in kleinen und großen Gemeinschaften so viel Kampf? Warum verhungern in unserer Welt Millionen Kinder? Die Appelle zur Nächstenliebe scheinen wenig zu nützen. Woher kommt der erschreckende Mangel an Nächstenliebe? Woher kommt die offenkundige Ohnmacht, Nächstenliebe zu tun? 

Ich denke, es liegt auch daran, dass wir unsere Energien für was anderes brauchen. Wir brauchen unsere Lebensenergie dringend für die Beseitigung der Daseinsangst und die Selbstdarstellung, die uns das Mithalten sichert. Die Angst, weg vom Fenster zu sein, die Angst, aus dem Boot zu fallen, erzeugt in uns eine Dauerspannung, die schon so selbstverständlich zum Leben gehört, dass wir sie kaum noch bewusst wahrnehmen. Sie frisst so viel Kraft, dass für anderes nicht mehr viel übrigbleibt, nicht mal für die eigene Lebensfreude und schon gar nicht für Nächstenliebe. 

Die meisten Menschen sind guten Willens, vielleicht sogar alle. Aber sie setzen für ihre guten Absichten zu wenig Energie ein. Wie sollten sie auch, wenn die Lebensangst allen Fleiß und alle Kraft auffrisst, von der Verdrängung der Todesangst ganz zu schweigen. Solange wir die Probleme unserer Angst nicht lösen, sehe ich auch für die Zukunft der Nächstenliebe schwarz. Die Sonntagsevangelien der Osterzeit werben sämtlich für die einzig mögliche Lösung, für das Einswerden mit Gott. Wir brauchen die totale Sicherheit. Wir brauchen den totalen Halt. Wir brauchen das Gefühl, total geliebt zu werden. Das holen wir nicht aus uns und nicht von andern. Das ist von Menschen nicht zu haben. Das Totale von Menschen zu verlangen, überfordert sie und macht sie kaputt. Es ist sinnlos, von Menschen haben zu wollen, was nur von Gott zu kriegen ist, im Einswerden mit ihm.

Die Osterzeit-Evangelien werben für diese Perspektive des Einswerdens mit Gott: im Bild von Hirt und Herde. Im Bild von Weinstock und den Reben. In der Erfahrung echter Freundschaft. Und immer wieder das direkte Aussprechen: dass Gott uns zuerst liebt, dass wir in seiner Liebe sein müssen, und dass uns ohne die Einheit mit ihm nichts gelingen wird.

Die Lebenserfahrung bestätigt, dass das genau so ist, und die großen Vorbilder der Nächstenliebe von Franziskus bis Mutter Teresa machen es anschaulich: erst das Immer-mehr-Einswerden mit Gott setzt unsere Energien frei für die Nächstenliebe. Und erst das Immer-mehr-Einswerden mit Gott verhindert, dass unser Nächstenliebe-Aktionismus nicht doch wieder zur persönlichen Selbstdarstellung gerät.

Eins-Werden mit Gott. Ihn suchen in allen Dingen, ihn ansprechen im Gebet, seiner Inne-Werden in der Gemeinschaft, ihn entdecken im Gesicht des Nächsten, die Freundschaft mit ihm geduldig aufbauen, sie stärken in der Kommunion. Kommunion heißt Vereinigung.

Offenwerden, die Offenheit wecken, immer wieder wecken, die Offenheit für die Erfahrung Gottes. Warten wir nicht auf die Sensation oder den Blitz. Gott gibt nur feine Zeichen, aber die immerfort.

Welche Zeichen gibt er mir jetzt?