Mein kleiner Floh (4. Adventssonntag 2002)
Können Sie sich das vorstellen: Weihnachten ohne Flöhe?
Aber ich bitte Sie, sagt eine adrett gekleidete Dame. Flöhe. Bei mir gibt‘s keine Flöhe. Nie. Und schon gar nicht an Weihnachten. Was haben überhaupt Flöhe in der Predigt zu suchen? Man spürt, es juckt sie, ganz ohne Flöhe, aufzustehen und rauszugehen.
Da reagiert mein Freund Gustav ganz anders. Weihnachten ohne Flöhe, sagt er, das kann ich mir sehr gut vorstellen. Es ist jedes Jahr dasselbe. Spätestens an Weihnachten habe ich keine Flöhe mehr. Immer wenn es auf Weihnachten zugeht, werden sie von einer seltsamen Unruhe gepackt, und dann veranstalten sie so eine Art Völkerwanderung. Da ist irgendwo so ein Klingeln, das sie anlockt. Und weg sind sie. Weihnachten ohne Flöhe, o ja, das kann ich mir nicht nur vorstellen, das kenne ich aus Erfahrung. Sie merken sofort: Mein Freund hat die Sache mit den Flöhen auf seine spezielle Weise verstanden.
Mir kommt noch ein ganz anderer Einfall.
Gruppenleiter, Kindergärtnerinnen und Mütter sagen gern: Auf meine Kinder aufpassen, heißt: einen Sack Flöhe hüten. Da werden Kinder mit Flöhen verglichen. Was haben Kinder und Flöhe gemeinsam? Sie sind klein, putzig, haben es mit dem Hüpfen und lieben den Zirkus. Unsere Kinderchristmette erinnert mich gelegentlich stark an einen Flohzirkus. Und schließlich sitzt ein Kind seiner Mutter manchmal auf der Pelle wie anderen Leuten ein Floh im Ohr. Wenn ich bei der Frage nach den Weihnachtsflöhen auch an Kinder denken darf, dann ist meine Antwort: Ich will ein Weihnachten mit Flöhen.
Ich komme jetzt noch einmal auf die adrette Dame vom Anfang zu sprechen. Ich vermute in ihr die perfekte Hausfrau und bin sicher, dass an Weihnachten unter ihrem Tannenbaum eine perfekte Krippe steht. Zu einer perfekten Krippe gehören Ochs und Esel, Kamele, Schafe und Hunde. Und da soll es keine Flöhe gegeben haben? Der Stall von Bethlehem war ja nicht ein chemisch gereinigter Plastik-Stall, sondern ein richtiger, mit echten Tieren und dann auch mit Mist und Ungeziefer. Und wenn zum armen Stall das Ungeziefer gehört, dann darf es in meiner Predigt auch die Flöhe geben.
Es gibt einen weiteren (christlichen) Grund, warum ich sie in meiner Predigt herumhüpfen lasse. Weil wir die Flöhe jenen zurechnen müssen, die in unserer Welt als gering gelten, als unscheinbar und so leise, dass die wenigsten Menschen sie auch nur husten hören, weil sie also zu den ganz Kleinen gehören. Vielleicht hat Gott, dem die Kleinen am Herzen liegen, sie mit besonderer Liebe konstruiert. Und weil sie mit so viel Liebe konstruiert sind, vielleicht setzen sie deshalb so viel liebenswürdigen Humor in Gang. Es gibt wenig Tiere, die zu so vielen witzigen Anspielungen und lustigen Redensarten anregen wie die Flöhe. Und weil sie auf ihre Weise nicht nur Gottes Liebe, sondern auch Gottes Witz leuchten lassen, darum gibt es in unseren Predigten wahrscheinlich noch viel zu wenig Flöhe.
Natürlich gehört zu einer richtigen Predigt auch der erhobene Zeigefinger. Er soll in dieser Predigt nicht fehlen. Bitte, lassen Sie an Weihnachten ein paar Flöhe springen für die Armen in Lateinamerika. Das wäre eine tolle Sache, wenn die Völkerwanderung der Flöhe ihre Richtung nähme auf die Notunterkünfte und Wellblechbaracken, die so armselig sind, wie es nach der Überlieferung der Stall von Bethlehem war. Da wären wir dann glücklich wieder beim Stall von Bethlehem angekommen, bei Maria und Josef und dem Kind.
Bei Taufgesprächen gucke ich gern zu, wie Mütter mit ihrem kleinen Kind umgehen. Wie sprechen sie es an? Sie sagen: Schätzchen, Herzchen, Mäuschen. Manchmal sagt eine Mutter auch: mein kleiner Floh. Könnten Sie sich vorstellen, dass Maria das auch zu ihrem Kind gesagt hat? Mein kleiner Floh. Könnten Sie sich vorstellen, dass Gott das auch zu Ihnen sagt?
Mein kleiner Floh.