Zum Inhalt springen

Freiheitswille (4. Sonntag der Osterzeit 2002)

Datum:
21. Apr. 2002
Von:
Heinz Büsching

Zum heutigen Lebensgefühl gehört ein unbändiger Freiheitswille. "Ich will unabhängig sein. Ich will frei sein." Nicht von Hilfe leben. Nicht auf Gnade angewiesen sein. Sich von niemandem reinreden lassen – das ist es, das gilt. Aus eigener Leistung leben und aus eigenen Entscheidungen, das ist es, das gilt. An Sozialhilfe hängen, auf Stütze angewiesen sein, das ist – entgegen allen Stammtischparolen – für die meisten Menschen, die es trifft, ein bitteres Brot. Und beim Altwerden sich immer mehr helfen lassen müssen, das kann für Menschen, die einmal aktiv waren, unerträglich sein.

Zum heutigen Lebensgefühl gehört ein unbändiger Freiheitswille. Ich will unabhängig sein. Ich will frei sein.

Das ist keine Totalbeschreibung unseres Lebensgefühls. Zu diesem Lebensgefühl gehört noch viel mehr. Der Freiheitswille ist nur ein Teil. Aber ein wichtiger. Wie wichtig – das kriegen heutige Organisationen zu spüren: Parteien, Gewerkschaften, Vereine aller Art und auch die Kirchen. Da wollen immer weniger Menschen mitmachen. Es gibt auch einen Widerwillen dagegen, sich zu verpflichten. Sich festlegen, sich binden, das wird erlebt als Einschränkung, die nicht schmeckt, fast schon als eine Bedrohung der Freiheit. Ungebundensein, frei sein, unabhängig – das ist ein Wert, dessen Ausstrahlung überall spürbar ist.

Das Bild von Hirt und Herde wirkt dagegen wie die Faust aufs Auge. Oder, ein bisschen moderater formuliert: es wirkt reichlich unmodern. Zu einer Herde gehören, einem Hirten folgen, das heißt ja: sich einfügen müssen; sich führen lassen, abhängig sein. Ähnliches sagen auch andere biblische Bilder. Ich denke an die Bilder von Haupt und Gliedern, vom Weinstock und den Reben und schließlich von der Jüngerschar, die ihrem Meister nachfolgt. Da wird Bindung betont. Ständige Bindung.

Ist das wirklich so unmodern? Passt das wirklich nicht in die Landschaft?

Ich denke: nur auf den ersten Blick und nur für oberflächliches Empfinden. Der Wunsch nach diesem gottähnlichen Ungebundensein ist nicht realistisch. Was uns der Zeitgeist da zuweht, hat keine Wurzeln in der Wirklichkeit. Der Mensch ist ein Gemeinschaftswesen. Wir sind nicht nur technisch und praktisch auf die anderen angewiesen. Wir brauchen auch die Liebe der anderen, ihre Zuwendung, das herzliche Miteinander. Haben Sie schon einmal Einsamkeit erlebt, an sich oder bei anderen? Einsamkeit ist tödlich. Nein, wir sind Gemeinschaftswesen. Und nur in der Gemeinschaft gewinnen wir Selbstbewusstsein, erleben wir Erfüllung und werden wir glücklich. Im Grunde seines Herzens weiß das jeder. Auch wer seine Ungebundenheit preist, kann nicht existieren ohne die anderen. Und wer Verpflichtungen meidet wie die Pest, um für jeden Spaß, der kommen könnte, frei zu sein, auch wer Verpflichtungen meidet wie der Teufel das Weihwasser, wird irgendwann merken, dass er nicht glücklich wird ohne Wurzel und ohne die Geborgenheit der Gemeinschaft. Gemeinschaft, persönlicher Austausch in einer Gemeinschaft, hin und her, geben und nehmen, Kritik und Ermutigtwerden – Gemeinschaft ist Lebenselixier.

Echte Gemeinschaft verlangt aber solide Zugehörigkeit und feste Bindung. Ohne feste Bindung entsteht allenfalls ein zusammengewürfelter Haufen, den der nächste Wind auseinanderwirbelt. Gute Gemeinschaften sind immer noch eine Kostbarkeit, und sie werden es bleiben, weil sie zum geglückten Menschsein gehören.

Das gilt auch von der Glaubensgemeinschaft. Denn Glaube ist auf Gemeinschaft angelegt. Glaube drängt zur Gemeinschaft. Dass Religion Privatsache sei, ist eine spätbürgerliche Verirrung. Die Menschheitserfahrung steht dem entgegen. Immer hat der Glaube die tiefsten und innigsten Gemeinschaften hervorgebracht. Und von Jesus wissen wir, wie sehr Gott die Gemeinschaft liebt – weil Gott selbst Gemeinschaft ist. Womit hat Jesus sein öffentliches Wirken begonnen? Er hat Jünger um sich gesammelt und eine Gemeinschaft aufgebaut. Sie besteht bis heute. Sie wird bestehen bis zum Ende der Welt. Selbst die Pforten der Hölle werden sie nicht überwinden.

Jede Gemeinschaft hat ihre Schwachstellen. Hat ihre Krisen. Immer wird man an der Gemeinschaft auch leiden. Aber ohne sie geht es nicht. Das gilt auch für die Glaubensgemeinschaft. Ohne meine Glaubensgemeinschaft bin ich ein loses Blatt im Wind; eine abgeschnittene Rebe, die verdorrt; ein Schaf, das sich verirrt hat.

Zum heutigen Lebensgefühl gehört ein unbändiger Freiheitswille. Ich will unabhängig sein. Ich will frei sein. Daran ist viel Richtiges. Das hat einen guten Kern. Von wem haben wir es denn gelernt, den unendlichen Wert eines jeden Menschen, seine Freiheit und Selbstverantwortung zu schätzen? Niemand hat das so eindringlich verkündigt und seiner Glaubensgemeinschaft so innig eingegeben wie Jesus von Nazareth. Einem solchen Hirten will ich folgen. Zu seiner Gemeinschaft will ich gehören. An einem solchen Weinstock will ich Rebe sein.

Die christliche Überlieferung kennt noch mehr solcher Bilder: Volk Gottes, Haus Gottes, Familie Gottes. Wie lebendig bin ich, wie lebendig sind Sie mit der Familie Gottes verbunden. Was tun Sie für das Familienleben?